
Lenné-Dreieck
Eine Massenflucht über die Berliner Mauer
Auf dem Lenné-Dreieck am Potsdamer Platz in Berlin, damals noch geteilt durch die Berliner Mauer, spielte sich in den frühen Morgenstunden des 1. Juli 1988 seltsames ab: fast 200 Menschen flüchteten über die Mauer, von West- nach Ost-Berlin. Ein kurioser Grenzverlauf und ein Tauschgeschäft machten es möglich. Das Areal befand sich zwar auf der West-Seite der Berliner Mauer, gehörte aber bis zu diesem Tag zu Ost-Berlin.
Berlin steht nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter der Hoheit der vier Allierten: Großbritannien, Frankreich, Sowjetunion und die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Stadt wird in vier Sektoren aufgeteilt und von den Besatzungsmächten gemeinsam verwaltet. Ost-Berlin liegt im sowjetischen Sektor, West-Berlin teilen sich die Briten, Franzosen und Amerikaner unter sich auf.
Lenné-Dreieck ist Teil vom Bezirk Berlin Mitte, befindet sich im sowjetischen Sektor, verbleibt aber nach dem Mauerbau 1961 auf der westlichen Seite der Mauer, im britischen Sektor. So nimmt eine Geschichte seinen Lauf, die im Juli 1988 weltweit Aufsehen erregen wird.
Auf die erste »Vereinbarung zwischen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und dem Berliner Senat über die Regelung der Frage von Enklaven durch Gebietsaustausch« am 20.12.1971 folgt am 31.03.1988 der Vertrag für ein Gebietsaustausch. Für 76 Millionen D-Mark »Werteausgleich« soll unter anderem auch Lenné-Dreieck, das Areal zwischen Ebert-, Bellevue- und Lennéstraße, was auf der Westseite der Mauer lag, aber Ost-Berlin gehört, im Rahmen eines Gebietsaustauschs ab 1. Juli 1988 den Besitzer wechseln. Ein eingezäuntes Gelände mit vielen Pflanzen- und Tierarten, seit 30 Jahren im Schatten der Mauer. West-Berlin plant dort die West-Tangente, eine Autobahn, zu bauen.
Ortswechsel, Berlin Kreuzberg, ein Jahr zuvor. Nach den heftigen Krawallen am 1. Mai 1987 wird in der Skalitzer Straße ein junger Mann von Zivilfahndern festgenommen. Er heißt Norbert Kubat, ist 29 Jahre alt. Ihm wird Landfriedensbruch im Rahmen der Unruhen in der Nacht vorgeworfen. Eine Haftverschonung wird abgelehnt. Am 26. Mai 1988, nach drei Wochen in Untersuchungshaft, wird er in seiner Zelle tot aufgefunden. Er beging Selbstmord.
Sein Name wird ein Jahr später in Erinnerung gerufen. Am 26. Mai 1988, im Anschluß an eine Demonstration, besetzen ca. 30 Aktivisten das Lenné-Dreieck, errichten ein Hüttendorf und rufen die "Freie Republik Kubat" aus. Bald gibt es viel Unterstützung. Eine "Volxküche" wird eingerichtet, es gibt einen eigenen Radiosender, "Radio Sansibar" und einen "Checkpoint Norbie". Die Alternative Liste spendiert zwei Hühner für frische Frühstückseier. Später kommen Ziegen dazu.
Noch handelt es sich um Ost-Berliner Territorium, West-Berliner Polizei darf das Gelände nicht betreten, umstellt das Gebiet mit Metallzäunen, ordnet eine rund um die Uhr Überwachung an und beschallt die Besetzer nachts auch Mal mit dem Queen-Song "We are the Champions" aus Polizeilautsprechern. Die antworten mit Steinen und Molotowcoctails. In der Folge wirft die Polizei eine Nacht lang Tränengaskartuschen auf das Gelände, die Wasserwerfer sprühen mit Reizgas getränktes Wasser in Richtung der Hütten.
Manche Tränengasgranate verfehlt ihr Ziel und fliegt über die Mauer, in den Osten. Die Tränengaswolken ziehen Richtung Alexanderplatz. DDR Grenzsoldaten setzen erst Gasmasken und darauf ihre Mützen auf und greifen zu Megafon: "Wir fordern die Westberliner Polizei auf, energische Maßnahmen zu ergreifen, zur sofortigen Einstellung des Beschießens des Hoheitsgebiets über die Grenzsicherungsanlagen..." Tags darauf sammeln die Besetzer an die 1.000 leere Tränengaskartuschen auf dem Gelände.
Die "Freie Republik Kubat" existiert so fünf Wochen lang. Am 1. Juli 1988, 00:00 Uhr ist es vorbei, das Areal gehört nun West-Berlin. Um 05:00 Uhr stürmen Hunderte Polizisten das Lenné-Dreieck. Gut vorbereitet, mit Stacheldraht Sperren und riesigen Schutzschildern aus Sperrholzplatten ausgestattet. Sie haben tagelang mit Luftaufnahmen das Gelände studiert.
Ein kleines Detail macht die ungewöhnliche Massenflucht Richtung Osten, die nun folgen wird, erst möglich: auch hier markierte die Mauer nicht den Grenzverlauf. Ein Streifen von zwei bis drei Metern, auf der Westseite der Mauer gelegen und "Unterbaugebiet" genannt, gehörte weiterhin der DDR. Die West-Berliner Polizisten durften diesen Streifen nicht betreten. Hoheitsgebiet eines anderen Staates. Jeder, der sich an die Mauer lehnt, ist vor einer Festnahme sicher.
So wurden bei der Erstürmung nur die festgenommen, die noch schliefen. Knapp 200 kletterten mit provisorischen Leitern und über Absperrgitter der Polizei, teils mit ihren Fahrrädern und Hunden, auf die Mauer. DDR-Grenzsoldaten brachten sie mit LKWs zum Frühstück nach Ost-Berlin, unter anderem in die Kantine des Verbandes der Konsumgenossenschaft.
»Alle Personen hatten die Grenze überschritten, um sich vor dem brutalen Polizeieinsatz und der Gefahr des Zusammengeschlagenwerdens durch die Westberliner Polizei in Sicherheit zu bringen«, notierte die für die Vernehmungen zuständige Stasi-Hauptabteilung IX. Nach dem Frühstück wurden sie in kleineren Gruppen zurück nach West-Berlin geschickt. Damit sie nicht gleich wegen Schwarzfahrens aufgegriffen werden, gab es Fahrscheine der West-Berliner Verkehrsbetriebe dazu.